Autonomie als oberstes Ziel der Rehabilitation
Als Ergänzung zur kurativen (heilenden) Medizin hilft die Rehabilitation Menschen mit krankheits- oder unfallbedingten Mobilitätseinschränkungen, wieder möglichst unabhängig leben zu können. Ein wichtiges Ziel, denn Autonomie ist ein Grundbedürfnis.
Die rehabilitative Medizin steht oft im Schatten ihrer kurativen Schwester und wird zuweilen – vor allem von jenen, die noch nie von ihr profitiert haben – als nebensächlich und für das Angebot an Gesundheitsleistungen nicht zwingend notwendig angesehen. Bestenfalls ganz nützlich, um nach einer schweren Covid-Erkrankung wieder zu Atem zu kommen oder die Knöchel von Hobbysportlern zu stärken. Doch weit gefehlt: Die WHO selbst sieht in der Rehabilitation einen integralen Bestandteil einer allgemeinen Gesundheitsversorgung. Nach einem schweren Unfall mindert sie nicht nur die körperlichen, sondern auch die seelischen Folgen. Sie hilft Kindern, Erwachsenen und betagten Menschen bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft, der Erreichung ihrer Ziele und der Rückkehr zu einem möglichst unabhängigen und selbstbestimmten Alltag. Sie bereitet auf die Zukunft vor, stärkt das Wohlbefinden und ermöglicht gemeinsame Aktivitäten mit der Familie oder ein Leben im gewohnten Zuhause. Alles Dinge von grundlegender Bedeutung.
Die Autonomie ist für alle Fachkräfte der Rehabilitation das oberste Ziel. Dahinter steht eine Philosophie mit drei Dimensionen, wie Dr. med. Titus Bihl, Stv. Chefarzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation am HFR Tafers, erklärt.
„An erster Stelle steht die Autonomie des Willens oder die Selbstbestimmtheit. Dieser Grundsatz der Bioethik ist zentral für die Rehabilitation. Er ermöglicht es uns, gemeinsam mit der Patientin oder dem Patienten realistische, motivierende und vor allem gemeinsame Ziele festzulegen. Danach kommt die Autonomie anderen gegenüber, also die Selbstständigkeit. Die Betreuung in der Rehabilitation soll den Patienten helfen, ihre (teilweise) verlorene Selbstständigkeit wiederzuerlangen. Die dritte, ebenfalls sehr wichtige Dimension ist die Selbstverantwortung oder das Selbstmanagement. Mit unserer Arbeit sorgen wir dafür, dass sich die Patientin oder der Patient so gut wie möglich selbst heilen kann.”
Die Königsdisziplin
Diese drei Dimensionen machen die Rehabilitation für Dr. med. Bihl zur Königsdisziplin. Sein Fachgebiet stellt nicht nur die Fähigkeiten des Körpers wieder her, sondern gibt dem Leben wieder Perspektiven. Und das ist es, was der perfekt zweisprachige Arzt an seinem Beruf besonders schätzt: „In der kurativen Medizin ist die Gesundheit ein Ziel an sich. In der Rehabilitation dient die Gesundheit dazu, die Ziele der Autonomie zu erfüllen.” Oder anders gesagt: „Die kurative Medizin füllt das Konto des Patienten. In der Rehabilitation geht es darum, wie er dieses Geld ausgibt.” Für eine Patientin bedeutet das, dass sie wieder die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufsteigen kann, für den Chorleiter, dass er mit seinem rechten Arm wieder den Taktstock schwingen kann, für jemand anderen, dass er trotz Sehproblemen sicher gehen kann.
Die bekannte Metapher des halbleeren oder halbvollen Glases, das für eine negative bzw. positive Sichtweise steht, hat in der Rehabilitation eine etwas andere Bedeutung: „Es ist wichtig, was bereits im Glas ist”, erklärt Dr. med. Titus Bihl. „Das sind die noch vorhandenen Fähigkeiten, auf denen wir das Reha-Programm für die Patientin oder den Patienten aufbauen. Aber auch der leere Bereich ist interessant, denn er repräsentiert die Entwicklungsmöglichkeiten, also das, was erreicht werden kann. In diesem Bereich befinden sich die Anpassungsfähigkeit und die individuelle Resilienz.”
Wenn der gutmütige Facharzt mit dem imposanten Schnauzer nur einen Ratschlag geben könnte, dann wäre es folgender: „Über die Krankheit hinausschauen. Sich sagen, dass man trotz der Erkrankung sein Leben weiterführen und weiter funktionieren kann. Eine Krankheit oder ein Unfall kann tiefe Spuren hinterlassen, aber glauben Sie mir, die Ressourcen bleiben erhalten. Das sehe ich bei meinen Patientinnen und Patienten. Und dank der Rehabilitation können sie diese Ressourcen mobilisieren, Strategien entwickeln und ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen.”