Keine Diagnose ohne Anamnese
Das Erstgespräch zwischen Patient und Arzt ist zentral, damit dieser die nötigen Schritte zur Behandlung einleiten kann. Zuhören und die richtigen Fragen stellen sind deshalb das A und O für die Diagnose und die anschliessende Behandlung.
Anamnese stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet «Erinnerung ». Ein treffender Ausdruck: Beim Erstgespräch zwischen dem Patienten und dem Arzt berichtet der Patient über seine aktuellen Beschwerden; er erinnert sich also an seine gesundheitlichen Leiden.
Verbale und nonverbale Kommunikation von Bedeutung
Dieser Erstkontakt ist für den Arzt sehr wichtig: Das Gespräch gibt ihm erste wichtige Hinweise für die Diagnose und die nachfolgende Behandlung. Ziel ist, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Von grosser Bedeutung ist nicht nur die verbale, sondern auch die nonverbale Kommunikation. Wenn der Patient beispielsweise sagt, er habe Bauchschmerzen, die Hand aber auf den linken Brustkorb legt, ermöglicht dies eine präzisere Aussage: Es könnte sich um ein Herzleiden handeln.
Das A und O einer guten Anamnese ist deshalb das Zuhören und Beobachten des Patienten, wie Dr. med. Raphael Kessler, Chefarzt Innere Medizin am HFR Tafers, erklärt: «Die ersten Eindrücke helfen, damit sich der Arzt ein umfassendes Bild der Beschwerden machen kann. Wir holen auch Informationen ab, die wichtig sind, auch wenn sich der Patient dessen nicht bewusst ist. Es braucht Erfahrung und Fingerspitzengefühl, um auch Nuancen in den Schilderungen des Patienten zu erkennen. Alles soll dazu beitragen, dass ein freies Gespräch ermöglicht wird und sich der Patient aufgehoben fühlt. »
Gezielte Anamnese
Gegenüber früher hat die Anamnese nichts an Bedeutung verloren. Was sich grundlegend verändert hat, ist die Palette der Zusatzuntersuchungen, die heute ein präziseres Vorgehen ermöglichen. Dr. med. Kessler erinnert sich: «Als ich Assistenzarzt war, gab es keine rund um die Uhr verfügbare Computertomografie (CT). Es wurden deshalb mehr Zusatzuntersuchungen gemacht, und es wurde auch schneller zum Messer gegriffen. Heute sind wir dank CT und MRI viel besser vorbereitet und können auch ohne Eingriff eine präzise Diagnose stellen.»
Je nach Hintergrund des Patienten wird sehr gezielt gefragt. Beispielsweise kann es einen Unterschied machen, ob jemand im Büro oder auf dem Bau arbeitet. Hier kann eine «Berufsanamnese » wichtige Rückschlüsse liefern. In Notfallsituationen ist eine kurze, aber gute Anamnese sehr wichtig und oft auf die dringenden Probleme gerichtet.
Erst nach dem Gespräch entscheidet der Arzt über die nötigen Zusatzuntersuchungen, beispielsweise Bluttests, radiologische Abklärungen usw.
Geschichte der Anamnese
Im Mittelalter spielte die Anamnese als Mittel zur Diagnosestellung keine Rolle. Erst der italienische Arzt Montanus forderte im 16. Jahrhundert, der Arzt müsse «[…] mit dem Kranken selbst sprechen», um alles zu erfahren, «was für die Erkennung der Krankheit wichtig ist». Damit wird erstmals die Anamnese mit der Diagnose verknüpft. Das Erheben der Krankengeschichte wird im 17. und 18. Jahrhundert zu einem festen Bestandteil der Diagnose. Sir William Osler, ein kanadischer Arzt des 19. Jahrhunderts, prägte den entscheidenden Satz: «Listen to your patient – he is telling you the diagnosis!» – «Hör deinem Patienten gut zu, er sagt dir die Diagnose!».