Unsere Medizin kann von der chinesischen Philosophie noch viel lernen

Der Facharzt der Allgemeinen Inneren Medizin und Chefarzt am HFR Meyriez-Murten Dr. med. Alexander Köhler praktiziert seit etwa 15 Jahren traditionelle chinesische Medizin. 

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Dr Köhler während der Akupunktur

Dr. med. Alexander Köhler, der Akupunktur praktiziert, freut sich darüber, dass ihm immer mehr Kollegen Patienten zuweisen.

Dr. med. Köhler, seit wann und in welchem Kontext praktizieren Sie traditionelle chinesische Medizin und vor allem Akupunktur? 

Akupunktur wende ich hier in Meyriez seit 2004 an, und zwar vor allem bei ambulanten Patientinnen und Patienten, die an chronischen Schmerzen, Allergien oder funktionellen Störungen wie zum Beispiel Reizdarm oder Schlafstörungen leiden. Es kommt vor, dass ich auch mal stationäre Patienten in der Abteilung Palliative Care behandle, die an Schmerzen oder Übelkeit leiden. 

«Die moderne Medizin steht auf zwei Beinen und braucht beide Ansätze.»

Hat Sie persönliches Interesse für TCM dazu bewogen, diese Praktiken zu erlernen? 

Ja, ich habe mich seit dem Jahr 2000 für diesen Ansatz interessiert und die gesamte Ausbildung bei der «Association suisse des praticiens de médecine traditionnelle chinoise » in der Schweiz gemacht. Danach habe ich die Gelegenheit wahrgenommen, 2002 bis 2005 in Zürich bei Professoren aus Peking einen Master in traditioneller chinesischer Medizin zu absolvieren. 2005 bin ich nach China gereist, um die Prüfung abzulegen – auf Englisch, möchte ich anmerken! – und mein Diplom der Universität Peking entgegenzunehmen. Das war eine sehr bereichernde Erfahrung. Wir durften nämlich in zwei Spitälern der Hauptstadt die chinesischen Ärztinnen und Ärzte bei der Arbeit beobachten. 

Akupunktur ist auch bei den Westlern ziemlich gut bekannt, doch welche anderen Disziplinen gibt es sonst noch in der traditionellen chinesischen Medizin? 

Neben der Akupunktur gibt es in diesem Medizinbereich die Pharmakopöe, also die Wissenschaft über die Heilpflanzen, die Moxibustion, eine Technik zur Stimulierung der Akupunkturpunkte mit Wärme, sowie Physiotherapie, wozu Massagen und energieflussanregenden Übungen wie Tai- Chi oder Qigong gehören. Von diesen vier Disziplinen wende ich hauptsächlich Akupunktur – mit Einwegnadeln möchte ich hervorheben – und heilpflanzliche Präparate an. Akupunktur wird von der Grundversicherung übernommen, sofern ein Arzt mit einer FMH-Weiterbildung sie ausführt, wohingegen die Behandlungen der Pharmakopöe nur von Zusatzversicherungen erstattet werden. 

Wie funktioniert eine Behandlung mit Pharmakopöe? 

In der traditionellen chinesischen Medizin verschreibt man selten nur eine Heilpflanze allein, sondern man erstellt ein auf den Patienten massgeschneidertes Rezept mit bis zu 20 verschiedenen Heilpflanzen. Gewisse davon zielen auf die Erkrankung ab, während andere dazu dienen, die Giftigkeit oder Nebeneffekte der Hauptzutaten aufzuheben oder abzuschwächen. Schlussendlich machen die Mischung des Ganzen und die Abstimmung auf den einzelnen Patienten den Behandlungserfolg aus. Ich verschreibe eine solche Behandlung in Form von Tropfen, die von einer in diesem Bereich spezialisierten Apotheke hergestellt werden. 

Wie reagieren Ihre Patienten auf diese Ansätze? 

Insgesamt sind Frauen gegenüber der Komplementärmedizin im Allgemeinen und gegenüber der chinesischen Medizin im Besonderen viel offener. Die rationalere, wissenschaftlichere, sachlichere Art der Männer stellt manchmal ein Hindernis dar. Aber viele Patienten kommen genau zu mir, weil sie wissen, dass ich dies praktiziere. Andere werden mir von Kollegen, Apotheken oder Physiotherapeuten zugewiesen, die diesen Ansatz auch gut finden. 

Wie sehen es Ihre Kollegen? 

Ich will nicht leugnen, dass es am Anfang welche gab, die das eher als Aberglauben abtaten. Aber sie sehen die positive Wirkung und langsam ändert sich die Einstellung. Zudem haben mehrere wissenschaftliche Studien die Wirksamkeit der Akupunktur erwiesen. Immer mehr niedergelassene Ärzte weisen mir Patienten zu, die sich zum Teil total gegen jede Chemie und somit Medikamente sperren. Oftmals sind solche Patienten eher geneigt, einem Arzt wie mir zuzuhören, und sie akzeptieren leichter eine umfassende Behandlung. Man kann nie mit nur einer einzigen Methode behandeln. 

Ist das Aufeinandertreffen von Osten und Westen also der Schlüssel zum Erfolg für die moderne Medizin? 

Auch in China wird heutzutage eine Blinddarmentzündung immer operiert. Im Grunde ist die traditionelle chinesische Medizin keine Alternative zu unserer westlichen Medizin, sondern eine Ergänzung. Die moderne Medizin steht auf zwei Beinen und braucht beide Ansätze. Unsere westliche Auslegung der Medizin, sehr wissenschaftlich und auf das Ergebnis ausgerichtet, kann noch viel von der chinesischen Philosophie lernen, denn dort ist die Suche nach dem Gleichgewicht – das man im Yin und Yang findet – sehr wesentlich.