„Wir sind weit mehr als blosse Homo erectus!”

Dank der Neuorganisation und Zusammenlegung der Rehabilitationsabteilungen konnten neue Betreuungsangebote entstehen, zum Beispiel die Neuroorthopädie

am HFR Meyriez-Murten.

Ob ein Patient seinen Arm nicht mehr richtig bewegen kann, weil er ihn gebrochen hat oder weil er einen Schlaganfall hatte, macht in der Rehabilitation einen grossen Unterschied. In beiden Fällen werden die Patienten in der orthopädischen Rehabilitation betreut, der Ansatz ist jedoch verschieden. Die Neuroorthopädie ist auf orthopädische Leiden spezialisiert, die als Folge eines neurologischen Problems auftreten. „Das ist etwas ganz anderes. Bei neurologischen Problemen sitzt nämlich manchmal kein Pilot mehr im Cockpit!” Jean-Pierre Chollet erlitt 2018 einen Schlaganfall („am 29. Oktober, um genau zu sein, dem Welt-Schlaganfalltag”), der sich insbesondere auf seine rechte Körperhälfte auswirkte.

Nach seinem Aufenthalt in der Akutpflege des HFR Freiburg – Kantonsspitals verbrachte er vier Monate in der Rehabilitation des HFR Meyriez-Murten. „Ich war sehr motiviert und freute mich, die Menschen kennenzulernen, die mir – so hoffte ich – mit Einfühlungsvermögen und Menschlichkeit helfen würden. Und ich wurde nicht enttäuscht.” Besonders beeindruckt war er vom respektvollen, konstruktiven und wohlwollenden Umgang, den die Physio- und Ergotherapeuten sowie Dr. med. Joelle Nsimire Chabwine, Fachärztin für Neurologie, pflegten. „Dr. Chabwine und ich waren entschlossen, meine Zukunft zu gestalten”, erinnert sich der Musiker, Chorleiter und ehemalige Direktor der Hochschule für Musik.

Individuelle Ziele

Jean-Pierre Chollet fühlte sich unterstützt und gefördert, musste jedoch bestimmte Protokolle einhalten. Das sei zwar bedauerlich, aber verständlich. In der ersten Phase der Rehabilitation ging es sprichwörtlich darum, ihn wieder auf die Beine zu stellen. Denn wer nicht aufstehen oder sicher gehen kann, kann nicht nach Hause zurückkehren. Also müssen die Beine gestärkt sowie das Gehen und das Gleichgewicht trainiert werden. Das Ziel: die Selbstständigkeit wiedererlangen. Dem musikbegeisterten Freiburger war es jedoch vor allem wichtig, dass sich seine Hände wieder fliessend über die Tasten seines Flügels, der im Wohnzimmer auf ihn wartete, sowie die Tastatur seines Computers und seines Musikprogramms bewegen können. „Das war meine Motivation. Wir sind weit mehr als blosse Homo erectus!”

Und die Wünsche von Jean-Pierre Chollet wurden gehört. „Dr. Decavel (Anm.d.R.: Chefarzt der Rehabilitation) ist keiner, der sich damit zufriedengibt, wenn der Patient wieder aufstehen kann. Er erlaubte mir, an meinen Zielen zu arbeiten. Und das mit Erfolg.“ Für Jean-Pierre Chollet war klar: Er wollte wieder seinen Chor dirigieren, Musik komponieren und spielen. Während seiner neuroorthopädischen Rehabilitation wurde ihm deshalb eine Injektionsbehandlung mit Botulinumtoxin (Botox) angeboten, ein Nervengift, das in der Neuroorthopädie immer häufiger eingesetzt wird.

Botox wirkt nicht nur gegen Falten

Botox ist vor allem als Wundermittel gegen die Zeichen der Zeit im Gesicht bekannt. Tatsächlich ist es das stärkste bekannte Nervengift. Aber wie der berühmte Schweizer Arzt Paracelsus sagte: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei.“ Botox wird in so geringen Mengen verwendet, dass der Nutzen die unerwünschten (sehr seltenen und reversiblen) Nebenwirkungen überwiegen. So kann das Mittel vielen Patientinnen und Patienten helfen und seine Einsatzmöglichkeiten entwickeln sich ständig weiter.

Seit den 1970er-Jahren wird Botulinumtoxin in der Neurologie zur Behandlung von Muskelspastiken als Ursache von Schielen und Gesichtskrämpfen eingesetzt. Im ästhetischen Bereich wurde das Nervengift erst viel später angewendet. Auch heute kommt Botox am häufigsten in der Neurologie zum Einsatz, wo es sich positiv auf fokale (lokal begrenzte) Spastiken auswirkt. Diese können als Folge eines Schlaganfalls sowie bei Menschen mit Cerebralparese oder einer Erkrankung wie multiple Sklerose auftreten. Bei einer Spastik sind die Muskeln stark angespannt und reagieren nicht mehr auf die neurologischen Impulse, was letztendlich dazu führt, dass sich die Muskeln und Gliedmassen zurückbilden. Botox verhindert und reduziert die Muskelspannung, indem es die Nervenenden an ihrer Verbindung zu den Muskeln blockiert und so eine Entspannung ermöglicht.

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