Die Klitoris: verkannt und zensiert
Ihre Existenz ist bekannt, aber wie sie aussieht, wie viele Nerven mit ihr verbunden sind oder wie gross sie eigentlich ist – nämlich ganze 8 bis 12 cm –, das wissen die wenigsten. Denn anders als der Penis und seine Bedeutung als erektiles Geschlechtsorgan des Mannes ist die Klitoris noch immer ein Tabuthema und wird auch in der wissenschaftlichen Forschung vernachlässigt.
Ende der 1980er Jahre blättert die australische Urologin Helen O’Connell in einem Anatomiebuch und staunt nicht schlecht: Es fehlt jegliche Beschreibung der Klitoris, während der Funktionsweise der Erektion des Penis ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Sie beschliesst also, die Klitoris zu ihrem Forschungsschwerpunkt zu machen. Ihr verdanken wir unseren heutigen Wissenstand zu diesem Organ – und unter anderem die Erkenntnis, dass die Eichel, also der sichtbare Teil der Klitoris, nur die Spitze des Eisbergs ist. Zwar wurde die Klitoris schon ab dem 16. Jahrhundert beschrieben, aber im Laufe der Jahrhunderte und im Zuge der Phallokratie wurde ihre Anatomie entweder verkannt oder sogar zensiert.
„Als man im 19. Jahrhundert erkannte, dass die Klitoris nicht zur Fortpflanzung beiträgt, wurde sie als nutzlos deklariert und fortan nicht mehr beachtet“, erklärt Marie Gelsomini Béguin, Psychotherapeutin in der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe des HFR sowie Spezialistin für Sexologie. „Selbsternannte Experten hielten es nicht für nötig, das Organ weiter zu erforschen. Es gibt daher eine grosse Wissenslücke in diesem Bereich.“
Und was in ihren Augen noch schlimmer ist: Es wurden auch falsche Informationen verbreitet, etwa dass es einen Unterschied zwischen vaginalem Orgasmus und klitoralem Orgasmus gäbe, bzw. dass einer besser wäre als der andere. Sigmund Freud behauptete sogar, der klitorale Orgasmus sei ein Zeichen von sexueller Unreife. Er war der Ansicht, dass die Entwicklung der Weiblichkeit eng an die Aneignung der Scheide gekoppelt sei und dass diese das männliche Glied benötige, um einen „reifen“ Orgasmus zu haben. Infolgedessen verschwand die Klitoris aus den Anatomiebüchern.
„Viele Frauen trauten sich nicht, ihren Körper zu erforschen“, bedauert die Spezialistin. „Die Freud’sche Theorie zum „besseren“ vaginalen Orgasmus ist schlicht falsch und sogar schädlich. Sie fördert die Vorstellung, dass Sexualität in erster Linie penetrativ zu sein hat.“ Auch der gebräuchliche Begriff des „Vorspiels“ impliziert, dass die Penetration der Hauptteil des sexuellen Akts ist. Doch während der Mann tatsächlich durch Penetration zum Höhepunkt kommt, wird das sexuelle Lustempfinden der Frau nicht über die Scheide, sondern über die Klitoris stimuliert. Übrigens ist nur ein Teil der Klitoris von aussen sichtbar, ein Grossteil des Organs liegt tiefer und umgibt die Scheide.
„Die weibliche Erregung und der weibliche Orgasmus werden durch psychische Stimuli (angenehmer Körperkontakt, Fantasien, Erotik) sowie eine physische Stimulation der Klitoris ausgelöst“, präzisiert Marie Gelsomini Béguin. „Die Stimulation der Klitoris löst eine Vielzahl an Reaktionen aus: Die Gefässe füllen sich mit Blut und schwellen an, es kommt zur Erektion. Und der Orgasmus ist im ganzen Körper spürbar, sogar auf hormonaler und neurologischer Ebene. Er ist also alles andere als ein Mythos!“