Warum leben Männer weniger lang als Frauen?
«Sind Männer das neue schwache Geschlecht?», fragte der Leitartikel der Septemberausgabe 2016 der Revue médicale suisse. Studien belegen nämlich, dass Männer in Sachen Gesundheit vulnerabler sind und eine tiefere Lebenserwartung haben als Frauen. Die Gründe dafür sind biologischer Natur, aber auch das Verhalten spielt eine Rolle.
Gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS) liegt die Lebenserwartung in der Schweiz derzeit für die Männer bei 82,2 Jahren und für die Frauen bei 85,8 Jahren. «Die Differenz nimmt jedoch tendenziell ab, insbesondere aufgrund einer besseren Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und der Tatsache, dass die beiden Geschlechter einen immer ähnlicheren Lebensstil pflegen», sagt Dr. med. Emilie Erard, stellvertretende Chefärztin der Allgemeinen Inneren Medizin am HFR Riaz.
Dennoch scheint die Natur die Gesundheit der Frauen besser zu schützen, unter anderem durch Östrogene, die weiblichen Sexualhormone. «Es ist erwiesen, dass diese Hormone das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen senken», bestätigt Dr. med. Erard. «Nach der Menopause steigt deshalb das Risiko bei den Frauen und ist schliesslich gleich hoch wie bei den Männern.»
Ein weiterer Faktor sind die Chromosomen: XX bei den Frauen, XY bei den Männern. Arten mit zwei identischen Chromosomen weisen in der Tat eine längere Lebensspanne auf, weil mögliche Anomalien durch die «Verdoppelung» ausgeglichen werden.
Stärke zeigen
Eigentlich sollten diese biologischen und genetischen Erkenntnisse die Männerwelt dazu bewegen, sich engmaschig medizinisch betreuen zu lassen – doch weit gefehlt: Gemäss einer Studie des BFS aus dem Jahr 2012 gehen 50 Prozent der Männer zwischen 25 und 45 Jahren innerhalb eines Jahres nie zum Arzt. Bei den Frauen sind es nur 35 Prozent, wobei hier die Kontrolluntersuchungen beim Frauenarzt nicht mitgezählt wurden. Genau dieser regelmässige Arztkontakt hat jedoch den Vorteil, dass die Frauen in den «medizinischen Kreislauf» kommen.
«Dank den gynäkologischen Untersuchungen können bestimmte gesundheitliche Probleme früher erkannt werden. Dadurch sind Frauen vielleicht auch stärker für Gesundheitsthemen im Allgemeinen sensibilisiert», meint Dr. med. Erard. «Bei den Männern besteht keine «Notwendigkeit» für eine regelmässige Konsultation, weil die Verhütung noch immer Sache der Frauen ist. Häufig findet der letzte medizinische Kontakt bei der letzten Auffrischung der Impfungen mit 16 Jahren oder in der Rekrutenschule im Alter von ungefähr 20 Jahren statt.
„Eine stärkere Prävention und eine Entstigmatisierung im Bereich der psychischen Gesundheit entscheidend ist.“
Ausserdem meinen viele Männer, sie müssten stark sein und dürften sich nicht beklagen. Das ist natürlich absurd und die Folge einer sozialen Konstruktion des Geschlechts, die nicht ohne schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit bleibt. Oftmals ignorieren oder verschweigen Männer ihre Symptome, um keine Schwäche zu zeigen. Ein Phänomen, das im Bereich der psychischen Gesundheit besonders verbreitet ist.
Statistiken belegen zudem, dass Männer eher von risikoreichem Verhalten wie Substanzmissbrauch (zu Freizeitzwecken oder zur Leistungssteigerung) betroffen sind, sich häufiger in gefährliche Situationen begeben, riskantere Sportarten und Berufe ausüben und weniger gesund leben. Die Gründe dafür sind sowohl biologischer (Einfluss von Testosteron) als auch sozialer Natur. Männer stehen unter hohem Leistungsdruck, um dem gesellschaftlichen Idealbild gerecht zu werden. Die Stärke der Männer ist also eigentlich eine Schwäche.
Prävention zur Förderung der Männergesundheit
Wie kann man die Gesundheit der Männer also verbessern? Insbesondere im Bereich der Prävention kommt den Hausärztinnen und -ärzten eine wichtige Rolle zu. «Die Prävention ist tatsächlich zentral», betont Dr. med. Emlie Erard. «Im Rahmen einer medizinischen Betreuung von «gesunden» Personen können psychische Erkrankungen, Risikoverhalten (Substanzen, Sexualität, gefährliche Aktivitäten) sowie Risikofaktoren von somatischen Erkrankungen je nach Alter, Geschlecht und familiärem Hintergrund früh erkannt werden.»
Ebenfalls wichtig wäre eine bessere Verbindung zwischen der Pädiatrie und der Erwachsenenmedizin, um sicherzustellen, dass die Betreuung weitergeführt wird, insbesondere wenn in der Kindheit oder Jugend Risikoverhalten festgestellt wurde. Schliesslich braucht es laut der Fachärztin zwingend eine stärkere Prävention und eine Entstigmatisierung im Bereich der psychischen Gesundheit.
Psychische Erkrankungen betreffen Frauen und Männer, auch wenn Letztere häufig weniger offen darüber sprechen. Zuzugeben, dass es ihnen schlecht geht, ist für viele ein Zeichen der Schwäche. «Viele Männer wenden enorm viel Energie auf, um zu beweisen, dass sie «echte» Männer und nicht wie Frauen sind», erklärt Marie Gelsomini-Béguin, Psychologin am HFR. «Sie wehren sich gegen alles, was ihre Männlichkeit infrage stellen könnte, etwa über Gefühle zu sprechen oder sich einer Psychologin oder einem Psychologen anzuvertrauen.»
Doch das Verharmlosen oder Verschweigen von Beschwerden kann schlimme Folgen haben. Im Jahr 2020 nahmen sich in der Schweiz 696 Männer und 276 Frauen das Leben. Das sind mehr als doppelt so viele Männer wie Frauen. «Die Gesellschaft hat eine klare Vorstellung davon, wie ein Mann sein soll. Dieses Idealbild schadet den Männern», so die Psychologin.
Wie kann man das ändern? Eine gezielte Prävention (z. B. Movember zur Sensibilisierung für Prostatakrebs), ein offenes Ohr: Wenn ein Kumpel sich einem anvertraut, braucht es mehr als nur ein Schulterklopfen. Schlagen Sie ihm vor, gemeinsam etwas zu unternehmen, um ihn aufzumuntern, oder fordern Sie ihn auf, sich an einen Arzt zu wenden. Und gehen Sie mit gutem Beispiel voran: «Wenn mehr Männer z. B. in Filmen oder auch im Alltag andere Muster vorleben (Teilzeitarbeit, Vaterschaftsurlaub usw.), wird sich dieses stereotypische Geschlechterbild verändern und die Gesundheit der Männer wird besser werden», ist sich Marie Gelsomini-Béguin sicher. Das fängt schon bei den kleinen Jungs an: Ihnen sollte man beibringen, dass sie weinen und traurig sein dürfen.