Frauen besser behandeln

Geschlechterstereotypen wirken sich schädlich auf die Gesundheit der Frau aus. Sie sind verantwortlich für Verzögerungen bei der Diagnosestellung (Herzinfarkt, Endometriose, Autismus) und Frauen werden gleich doppelt bestraft: Sie sind anfälliger für die Nebenwirkungen von Medikamenten und ihre Schmerzen werden verharmlost. Interview mit der Medizinprofessorin Carole Clair und der Soziologin Joëlle Schwarz, die gemeinsam die Abteilung Santé et genre (Gesundheit und Geschlecht) von Unisanté in Lausanne leiten.

Der Androzentrismus – „was für den Mann gilt, gilt für alle“ – treibt zuweilen seltsame Blüten: Ein gutes Beispiel dafür ist eine klinische Studie der Rockefeller University (NY) aus dem Jahr 1986, in der die Auswirkungen von Fettleibigkeit auf Brust- und Gebärmutterkrebs untersucht wurde, und zwar anhand einer Kohorte, die nur aus Männern bestand.

Frauen sind in klinischen Studien untervertreten, obwohl sie auf bestimmte Krankheiten und Medikamente anders reagieren als Männer. Das häufig eingesetzte Morphin beispielsweise verursacht bei Frauen doppelt so viele Nebenwirkungen wie bei Männern. Zudem benötigen Frauen eine höhere Dosis, damit die gewünschte Wirkung eintritt. Es reicht also nicht, die Dosierung von Medikamenten, die an Männern getestet wurden, zu reduzieren, um Frauen besser behandeln zu können.

Wie also können wir Frauen besser behandeln?
Carole Clair : Es erfordert einen Kulturwandel, klinische und interdisziplinäre Forschung sowie die Sensibilisierung zukünftiger Ärztinnen und Ärzte für die Geschlechterproblematik.

Die Häufigkeit von unerwünschten Nebenwirkungen ist bei Frauen um 50 Prozent höher als bei Männern. Trotzdem werden Frauen nicht doppelt so häufig in klinische Studien einbezogen...
CC : Wir befinden uns im Zeitalter der ultrapersonalisierten Medizin und wir beginnen gerade erst, uns diese Frage nach der Wirksamkeit und den Auswirkungen ähnlicher oder unterschiedlicher Behandlungen bei Männern und Frauen zu stellen. Diese Fragen hätten schon viel früher gestellt werden können. Die androzentrische Auffassung führte dazu, dass Behandlungen auf der Grundlage eines Standardkörpers entwickelt wurden. Dieser trägt dem weiblichen Körper jedoch nicht Rechnung. Und genau da erkennt man, dass die Wirksamkeit, aber auch – und vor allem – die Nebenwirkungen nicht die gleichen sind. Dazu brauchen wir unbedingt mehr Daten.

Joëlle Schwarz : Und leider entsprechen die Anforderungen an die Forschung in der Schweiz nicht den Anforderungen anderer Länder wie den USA oder der Europäischen Union. Dies gilt insbesondere für gemischte Stichproben, d. h., dass man sicherstellt, dass die Stichproben die Bevölkerung in Bezug auf Geschlecht, ethnische Herkunft usw. repräsentieren.

Gemäss den Zahlen des Bundesamts für Statistik sterben Frauen in der Schweiz häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen als Männer, und dennoch erleiden sie nur halb so oft einen Herzinfarkt. Wie lässt sich das erklären?
CC: In absoluten Zahlen werden tatsächlich mehr Männer mit einem Herzinfarkt ins Spital eingeliefert. Betrachtet man hingegen die Anzahl Todesfälle im Zusammenhang mit einem Herzinfarkt, sind mehr Frauen betroffen. Die Daten zeigen, dass Herzinfarkte bei Frauen nach wie vor zu spät erkannt werden. Sie werden folglich später behandelt. Und bevor sie im Spital sind, warten die Frauen länger, um zum Arzt zu gehen, und die Ärzte wiederum brauchen länger, um das Problem zu erkennen. All das sind Faktoren für eine schlechte Prognose.

Es wird auch vermutet, dass bestimmte Behandlungen bei Frauen weniger wirksam sind und mit mehr Komplikationen einhergehen. Anatomische Unterschiede oder unterschiedliche Erkrankungen führen dazu, dass die empfohlenen Behandlungen, die nachweislich wirksam sind, bei Frauen vielleicht etwas weniger gut anschlagen.

„Frauen müssen weiterhin den nötigen Raum in Anspruch nehmen, um sicherzustellen, dass nicht in ihrem Namen gesprochen wird. Sie müssen sich äussern und fordern, dass man ihnen Gehör schenkt.“

Geschlechterstereotypen verzerren auch die Datenlage in Bezug auf Schmerzen. Frauen vertragen diese tatsächlich weniger gut als Männer.
CC : Das stimmt. Es wird fälschlicherweise angenommen, dass Frauen in der Regel schmerzresistenter sind. Trotzdem werden sie etwas weniger ernst genommen und weniger gut behandelt. Wir alle – Männer und Thema Thema Frauen – haben vorgefasste Meinungen. Wichtig ist, sich bewusst zu machen, auf welche Weise diese Stereotypen die Art und Weise beeinflussen, wie wir Patientinnen und Patienten behandeln. Die Ausbildung ist eine gute Möglichkeit, solche Stereotypen zu erkennen und sie in Frage zu stellen.

JS : Stereotypen sind fest verankert und wirken sich auf das Verhalten aus, bei Frauen genauso wie bei Männern. Eine Studentin berichtete von einem Fall, in dem ein Polizist aufgrund von Suizidgedanken in die Sprechstunde kam. Seine Äusserungen wurden nicht ernst genug genommen, weil „er ein Polizist ist, er ist stark. Das packt der schon“. Auch Männer können durchaus von der Widerlegung dieser Stereotypen profitieren, die auch für sie schädlich sind, insbesondere in Bezug auf Depressionen oder Osteoporose, die bei ihnen häufig nicht diagnostiziert werden.

Und die Frauen selbst, wie können sie ihre Sache vorantreiben?
CC : Sicher liegt es nicht an der Frau, ihrem Arzt zu sagen, dass er ihre Schmerzen ernster nehmen soll. Doch viele Frauen neigen dazu, ihre Schmerzen oder Symptome zu verharmlosen oder selbst zu deuten, wodurch sie selbst bestimmte Stereotypen ins Spiel bringen. Vielmehr müssen sie ihrem Körper vertrauen und sich berechtigt fühlen, sich zu ihren Beschwerden zu äussern. Ein Ansatzpunkt könnte sein, sich zu bestimmten Themen stärker auszutauschen und offener zu kommunizieren. Die Endometriose ist ein schönes Beispiel, bei dem Vereinigungen betroffener Frauen dafür sorgen konnten, dass die Krankheit besser anerkannt und behandelt wird.

JS : Historisch betrachtet waren es tatsächlich die Frauen, durch die feministischen Bewegungen, die wesentlich dazu beigetragen haben, dass sich die Dinge ab den 1970er Jahren geändert haben. Die angelsächsische Frauengesundheitsbewegung schuf unter anderem das weit verbreitete Handbuch „Unsere Körper, unser Leben“, dessen Ziel es war, Frauen das Wissen über Fragen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit zurückzugeben, da dieses Wissen „medikalisiert“ und damit maskulinisiert worden war.

Frauen müssen weiterhin den nötigen Raum in Anspruchnehmen, um sicherzustellen, dass nicht in ihrem Namen gesprochen wird. Sie müssen sich äussern und fordern, dass man ihnen Gehör schenkt.

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